SDG 1 verwirklichen
Die Anzahl extrem armer Menschen hat global seit 1990 von 2 Milliarden auf 648 Millionen im Jahr 2019 abgenommen.[1] Auch wenn Covid-19 vorübergehend zu einem Anstieg geführt hat, wird in Zukunft ein weiterhin abnehmender Trend erwartet. Dies ist eine enorme, einzigartige Errungenschaft der Menschheit.
Was ist Armut?
Laut der Weltbank gilt man als extrem arm, wenn man am Tag weniger als 2,15 internationale Dollar zur Verfügung hat[2] - für Nahrung, Unterkunft, Mobilität, Bildung, Gesundheit, soziale und kulturelle Teilhabe, etc. Es handelt sich also um das kleinste, für die meisten Menschen gar nicht vorstellbare Mindestmaß. Nimmt man etwas höhere Schwellen, bspw. 3,65 Dollar oder 6,85 Dollar, erhöht sich der Anteil der im Jahr 2019 armen Menschen auf 23,5% bzw. 46,8%. Legt man eine vielleicht wirklich adäquate Grenze von 20 Dollar am Tag an (unter der 2019 in Deutschland 4,5% der Menschen lebten), so hat der globale Anteil kaum abgenommen: Von 83% im Jahr 1990 auf 77% im Jahr 2019. Und in Sub-Sahara-Afrika nimmt die Anzahl der extrem armen Menschen mindestens seit 1990 sogar stetig zu. Es gibt also noch sehr viel zu tun auf dem Weg zu SDG 1, nämlich „Armut in all ihren Formen und überall [zu] beenden“.
Armut ist aber viel mehr als die Höhe des Einkommens. Der multidimensionale Armutsindex konzeptionalisiert Armut in einem Haushalt als fundamentalen Mangel in mehreren grundlegenden Aspekten wie Zugang zu sauberem Trinkwasser, Elektrizität und Sanitärversorgung.[3] Amartya Sen definierte Armut als das Fehlen der Möglichkeit, sein eigenes Potenzial als Mensch verwirklichen zu können.[4] Und dennoch: Die Grundlage für die Auslöschung aller Armutsformen bleibt eine materielle.
Transformation der Wirtschaft als Lösung
Wie können nun die internationale Staatengemeinschaft und einzelne Länderregierungen, (extreme) Armut weiterhin effektiv verringern? Ein Blick auf China, das Land, welches in den letzten Jahrzehnten einen besonders hohen Rückgang in extremer Armut zu vermelden hatte, scheint sinnvoll. Von 1990 bis 2019 ging dort die extreme Armut um 99,8% zurück, von 817 Millionen auf 2 Millionen Menschen. Wie hat China das geschafft? Die Antwort ist die gleiche wie in allen anderen historischen Eliminierungen struktureller Massenarmut, ob in Westeuropa, Nordamerika und Japan ab dem 19. Jahrhundert, in Südkorea und Taiwan ab den 1960er-Jahren oder in China ab den 1980er-Jahren: Durch eine strukturelle ökonomische Transformation.[5]
Denn arme Länder sind arm, weil eine große Mehrheit ihrer Bevölkerungen in unproduktiven ökonomischen Beschäftigungen feststeckt. Damit Länder der Armut entkommen können, benötigen sie jahrzehntelange wirtschaftliche Entwicklung, die im Kern auch eine Industrialisierung beinhaltet. Dies zu bewerkstelligen ist zum einen eine Frage der Industriepolitik (Was muss gemacht werden?) und zum anderen eine Frage der Politischen Ökonomie (Wie kann die richtige Industriepolitik auch politisch gelingen?).[6]
Die Bedeutung des Klimawandels für nachhaltige Armutsbekämpfung
Im Hinblick auf multiple Krisen –allen voran der Klimawandel– stehen Regierungen von Ländern mit niedrigen Einkommen vor einer enormen Herausforderung: Ihre Bevölkerungen gegen vielfältige Bedrohungen ihrer Lebensgrundlagen resilient zu machen. Dies kann durch den Aufbau funktionierender Bildungs-, Gesundheits-, und sozialer Sicherungssysteme geschehen. Entwicklungspartner aus dem globalen Norden unterstützen hier auf technische und finanzielle Weise. Wenn aber eine dauerhafte Abhängigkeit des globalen Südens von Geldern des globalen Nordens nicht erwünscht ist, dann müssen die materiellen Mittel dort produziert werden, wo sie verwendet werden sollen. Keine Frage, ökologische Nachhaltigkeit muss auch hier mitgedacht werden.[7] Aber statt einer ökologisch-sozialen Transformation, die im Globalen Norden, in China und vielen anderen Ländern in der Tat jetzt erfolgen muss, sollte der Fokus in besonders armen Ländern primär auf einer ökonomischen Transformation liegen, um dem Klimawandel erfolgreich zu begegnen und Armut in all ihren Formen und überall zu beenden.
[1] Alle Statistiken in diesem Beitrag stammen von www.ourworldindata.org.
[2] https://www.worldbank.org/en/topic/poverty/overview
[3] https://hdr.undp.org/content/2023-global-multidimensional-poverty-index-mpi#/indicies/MPI
[4] Sen, A. (1999) Development as Freedom. Oxford University Press.
[5] Chang, H.-J. (2002). Kicking Away The Ladder: Development Strategy In Historical Perspective. Anthem Press.; Ang, Y.Y. (2016). How China Escaped the Poverty Trap. Cornell University Press.
[6] Whitfield, L., Therkildsen, O., Buur, L., & Kjær, A. M. (2015). The politics of African industrial policy: A comparative perspective. Cambridge University Press.
[7] Altenburg, T. (2021). Catching Up or Developing Differently? Techno-Institutional Learning with a Sustainable Planet in Mind. In: Lee, J.D. et al. (eds.). The Challenges of Technology and Economic Catch-up in Emerging Economies. Oxford University Press.
Verfasser
Dr. Sebastian Heinen Entwicklungsökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Nachhaltige Entwicklung (IZNE) der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der politischen Ökonomie wirtschaftlicher Transformation in Sub-Sahara-Afrika, insb. Ruanda. Kontakt: sebastian.heinen@h-brs.de